Technische Chemie - das Navigationssystem für Chemiker und Ingenieure
Ein Beitrag von Prof. Prof. h.c. Dr. Wladimir Reschetilowski, Technische Universität Dresden, Fachrichtung Chemie und Lebensmittelchemie, Professur für Technische Chemie
Die Technische Chemie stellt als Wissenschaftsdisziplin und Lehrfach eine Einheit aus reaktions-, verfahrens-, regelungs-, sicherheits- und umwelttechnischen Sachverhalten dar, die in ihrer Gesamtheit als Navigationssystem für Chemiker und Ingenieure auf dem komplexen Weg von der Ideenfindung im Labor bis zum Bau chemischer, biotechnologischer oder elektrochemischer Produktionsanlagen unerlässlich ist. Daher kann keine Chemiewirtschaft der Welt auf die lebenswichtige Funktion der Technischen Chemie innerhalb der stoffwandelnden Industrie verzichten.
Relevanz
Alle Analysen, die bisher zum Berufsfeld von Chemikern und Chemieingenieuren durchgeführt wurden, sprechen eine deutliche Sprache: der Technischen Chemie, deren Kernfunktion es ist, Grundlagenerkenntnisse in praktische Anwendungen des industriellen Maßstabs zu übertragen, kommt in der beruflichen Praxis eine außerordentlich wichtige Rolle zu. Zum Arbeitsbereich von Industriechemikern, die insbesondere bei der Verfahrensentwicklung oder -verbesserung sehr eng mit Ingenieuren und Betriebswirten interdisziplinär zusammenarbeiten müssen, gehören die Behandlung verschiedenster Aspekte wie die Rohstoff- und Energieverfügbarkeit, die Wahl optimaler Syntheserouten, die Reaktions- und Produktanalyse, die Produktionskapazität, die Auswahl geeigneter Apparate sowie der Mess-, Regel- und Prozessleittechnik, die Sicherheit der Produktionsanlagen, der Umwelt- und Arbeitsschutz, die wirtschaftlichen Bewertungen u.v.a.m. Die Entwicklung neuer Prozesse und Produkte wird weiterhin erforderlich sein, um Wachstum zu gewährleisten und im globalen Wettbewerb zu bestehen. Deshalb werden die großen Herausforderungen der
Zukunft im Bereich der Elektronik und Informationstechnik, der Energie-, Verkehrs- und Transporttechnik, der Textilerzeugung und -veredelung, der Lebensmitteltechnik, der Landwirtschaft und Ernährung, des Gesundheitswesens und des Umweltschutzes sowie der heterogenen, homogenen, Bio- und Elektrokatalyse nur mit Hilfe der Technischen Chemie als methoden- und anwendungsorientiertes Forschungsgebiet und Lehrfach an den wissenschaftlichen Hochschulen, Universitäten und Fachhochschulen zu meistern sein.
Technische Chemie studieren
An vielen deutschen Hochschulen und Universitäten werden die erforderlichen berufsqualifizierenden und praxisrelevanten Fähigkeiten und Fachkenntnisse in Technischer Chemie in Bachelor- oder Master-Studiengängen durch Vorlesungen, vorlesungsbegleitende Rechenübungen bzw. Seminare und ein stark methodisch ausgerichtetes technisch-chemisches Grundpraktikum vermittelt. Der wissenschaftliche Praxisbezug der technisch-chemischen Ausbildung stellt eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Akkreditierung von Studiengängen dar. Im Folgenden sei das Dresdner Ausbildungskonzept in Technischer Chemie, das sich weitgehend an den vom DECHEMA-Unterrichtsausschuss für Technische Chemie an wissenschaftlichen Hochschulen und Universitäten herausgegebenen Empfehlungen orientiert und drei wichtige Kompetenzfelder umfasst, kurz vorgestellt:
› Die chemische Reaktionstechnik vermittelt zunächst, ausgehend von soliden Grundlagen der Stöchiometrie, Thermodynamik und Kinetik, die Kenntnisse über die praxisrelevante Analyse und Modellierung chemischer, biotechnologischer und elektrochemischer Reaktionen. Darauf aufbauend befasst sie sich mit verschiedenen Reaktorgrundtypen sowie deren Auswahl, Dimensionierung und Optimierung unter Berücksichtigung der Stoff- und Wärmetransportvorgänge. Im Anschluss daran sind die Studierenden befähigt, für die technische Realisierung von Stoffwandlungsreaktionen den geeigneten Reaktortyp auszuwählen, die Reaktionsbedingungen festzulegen und mit experimentell ermittelten oder vorgegebenen thermodynamischen und kinetischen Daten das Reaktorvolumen für eine bestimmte Produktionskapazität zu bestimmen.
› Die thermischen und mechanischen Grundoperationen behandeln die verfahrenstechnischen Prinzipien der Stoffmischung und -trennung sowie die Einbindung dieser Verfahrensschritte in chemische, biotechnologische und elektrochemische Prozesstechnologien. Die Studierenden erlernen bewährte Methoden, verfahrenstechnische Aufgaben im Bereich der Rektifikation, Extraktion, Absorption, Adsorption etc. zu bearbeiten. Das wird ihnen später im Berufsleben erleichtern, die ingenieurtechnische Denkweise nachzuvollziehen und damit die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Ökonomen in einem Unternehmen zu schaffen.
› Die chemische Prozesskunde vermittelt die stofflichen und technologischen Grundlagen sowie die Struktur von Produktionsanlagen und behandelt das Zusammenspiel technisch-chemischer, wirtschaftlicher und umweltrelevanter Aspekte, um zu einem vertieften Verständnis zahlreicher Einflussfaktoren im Produktionsprozess (Rohstoff- Energie-Produkt-Verbund) zu gelangen. Dabei wird der Schwerpunkt auf moderne Prozesstechnologien gelegt, die jetzt und in der Zukunft für den beruflichen Alltag eines in der Industrie tätigen Chemikers und Chemieingenieurs relevant sind. Unter ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten sind die neuen Synthesewege, alternative Rohstoffe und Reaktionsmedien, neuartige Katalysatoren sowie die Mikroreaktionstechnik zur Herstellung von Feinchemikalien, Wirkstoffen oder Nanopartikeln von besonderem Interesse.
Die Vermittlung der Kompetenz auf diesen Gebieten wird durch die vorlesungsbegleitenden Rechenübungen bzw. Seminare untermauert, in denen für die künftigen Absolventen Methoden und Fertigkeiten zur fehlerfreien Ausführung technisch-chemischer Berechnungen vermittelt werden. Denn die Entwicklung von neuen und die Verbesserung von laufenden Produktionsverfahren sind nur möglich, wenn diese durch die quantitative Beschreibung der Prozessabläufe oder von stationären Zuständen in der chemischen, elektrochemischen und der Bio-Reaktionstechnik sowie für thermische oder mechanische Grundoperationen vorbereitet bzw. unterstützt werden.
Schließlich rundet das technisch-chemische Praktikum als ein unverzichtbarer Bestandteil die moderne und vollwertige Ausbildung in Technischer Chemie ab. Dadurch werden die Studierenden in die Lage versetzt, das erlernte stofflich-chemische Wissen am Beispiel von reaktionstechnischen, verfahrenstechnischen sowie mess- und regelungstechnischen Praktikumsaufgaben mit technologischer Problemstellung zu vertiefen. Eine geschlossene Darstellung der Theorie und Praxis dieser Praktikumsaufgaben liegt in Form eines an den Erfordernissen der chemischen Industrie orientierten Praktikumsbuches vor (W. Reschetilowski, »Technisch-chemisches Praktikum«, Wiley-VCH, Weinheim, 2002). Mit den darin enthaltenen reaktionstechnischen Praktikumsaufgaben erlernen die Studierenden die bewährten experimentellen Methoden zur Ermittlung des Verweilzeitverhaltens von Reaktorgrundtypen, zur Bestimmung kinetischer und thermodynamischer Daten für Flüssigphasen- und heterogen katalysierte Gasphasenreaktionen sowie für praktisch wichtige biotechnologische und elektrochemische Prozesse und deren Optimierung. Mit den verfahrenstechnischen Praktikumsaufgaben werden die Studierenden dazu befähigt, mit Hilfe typischer experimenteller Techniken zur Untersuchung von Stofftrennproblemen, die für die Auslegung von Grundoperationen (Rektifikation, Extraktion, Absorption oder Adsorption) benötigten Daten festzulegen sowie technologisch geeignete Prozesseinheiten auszuwählen. Mit den Praktikumsaufgaben zur Mess- und Regelungstechnik werden grundlegende Kenntnisse zum Messen und Regeln von Prozessgrößen wie Temperatur, Druck oder Durchfluss erworben. In Verbindung mit moderner Rechentechnik wird dieses Wissen im Praktikum insbesondere bei der Online- Erfassung und Auswertung von Messdaten sowie bei der Prozesssteuerung angewandt.
Eine wesentliche Komponente der technisch-chemischen Ausbildung stellt die einwöchige Exkursion in die chemische und chemisch-pharmazeutische Industrie dar. Mit dieser Exkursion wird die Praxisrelevanz der in den Vorlesungen, Rechenübungen und Praktika vermittelten Lehrinhalte sichtbar gemacht. Darüber hinaus dient die Exkursion dazu, die enge Verflechtung von Prozesstechnologien hinsichtlich der Reaktions- und Verfahrenstechnik, Sicherheitstechnik, Ökologie und Ökonomie zu verdeutlichen.
Fazit
Die im Lehrfach Technische Chemie behandelnden Inhalte sind nicht an den Industriemaßstab gebunden, sondern vom Labormaßstab an aufwärts anwendbar. Damit verfügen die künftigen Absolventen nach erfolgreichem Abschluss der Grundausbildung in Technischer Chemie im Bachelor-Studiengang über Kenntnisse, die sie im Masterstudium und Graduiertenarbeiten (präparative Arbeiten, kinetische Untersuchungen, Katalysator- und Verfahrensentwicklung etc.) qualitätsfördernd einsetzen können.
Kurzvita
Prof. Prof. h.c. Dr. Wladimir Reschetilowski
› 1967 Beginn des Chemiestudiums an der Kiewer Schewtschenko-Universität
› 1969-1972 Chemiestudium an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg (Diplom unter Prof. Taube im Bereich der Homogenen Katalyse und Koordinationschemie)
› 1978 Promotion an der TH Leuna-Merseburg (Dissertation unter Prof. Bremer im Bereich der Heterogenen Katalyse)
› 1987 Habilitation an der TH Leuna-Merseburg
› 1988-1990 Hochschuldozent für Technische Chemie an der Universität Leipzig
› 1991-1996 Abteilungsleiter »Technische Chemie« am Karl-Winnacker-Institut der DECHEMA e.V., Frankfurt am Main
› 1994 Honorarprofessor für Technische Chemie an der Universität Leipzig
› seit 1996 C4-Professor für Technische Chemie an der Technischen Universität Dresden
› 2009 Ehrenprofessur an der St. Petersburger Staatlichen Technologischen Hochschule (Technische Universität) Forschungsschwerpunkte:
› Säurekatalysierte und bifunktionell katalysierte Umwandlungen von Kohlenwasserstoffen an Zeolith-Katalysatoren
› Asymmetrische katalytische Synthesen an chiral modifizierten Katalysatorsystemen auf Basis poröser Feststoffe
› Katalysatoren und Adsorbentien für die Lösung von Umweltproblemen
› Einsatz von Mikrostrukturreaktoren in der präparativen Chemie
› Heterogen-katalysierte Umwandlung von biobasierten Rohstoffen zu organisch-technischen Grundchemikalien und Kraftstoffkomponenten
Lehraktivitäten:
Vorlesungen/Rechenübungen (z.T. eLearning)
› Chemische Reaktionstechnik;
› Chemische Prozesskunde;
› Grundlagen des Chemieingenieurwesens
› Einführung in die Heterogene Katalyse;
› Zeolithchemie und -katalyse;
› Verfahrensentwicklung;
› Produktionsintegrierter Umweltschutz;
› Messmethoden in der chemischen Technik;
› Geschichte der Technischen Chemie;
› Mitwirkung im Katalyselehrverbund Mitteldeutschlands.
Technisch-chemisches Praktikum und Exkursionen in die chemische und chemisch- pharmazeutische Industrie
Akademische Ämter/Mitarbeit in wissenschaftlichen Gremien:
› 2000-2002 Prodekan der Fachrichtung Chemie der TU Dresden
› Langjähriges Mitglied der Fachkommission und der Studienkommission der Fachrichtung Chemie und Lebensmittelchemie der TU Dresden
› Gründungsmitglied und Vorsitzender bzw. stellv. Vorsitzender der Studienkommission des Studienganges »Chemieingenieurwesen« an der TU Dresden
› Mitglied des Kleinen Kreises des Unterrichtsausschusses »Technische Chemie« der DECHEMA (Federführender Autor von »Lehrprofil Technische Chemie« an Wissenschaftlichen Hochschulen)
› Berufener Gutachter der Akkreditierungsagentur für Studiengänge der Ingenieurwissenschaften, der Informatik, der Naturwissenschaften und der Mathematik e.V. (ASIIN)
› 2005-2006 1. Vorsitzender der Wilhelm-Ostwald- Gesellschaft e.V., langjähriges Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates
› Vorsitzender der Bezirksgruppe Mitteldeutschland der DGMK
› Mitglied der DECHEMA, der GDCh, der DGMK, des DHV, der Internationalen Zeolith- Assoziation, der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft e.V., der Gesellschaft von Freunden und Förderern der TU Dresden und des Fördervereins der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig e.V.