Medizintechnik - Ein vielfältiges und wundervolles Masterstudium!
Ein Beitrag von Prof. Dr. Martin Hessling, Hochschule Ulm, Fakultät Mechatronik und Medizintechnik
Taube können wieder hören, Blinde wieder sehen, Gelähmte wieder laufen! Von solchen Wundern wird in der Bibel und in Märchen berichtet, aber mit der Realität scheinen sie nichts zu tun zu haben. Doch dieser Eindruck täuscht! Die Fortschritte in der Medizintechnik bringen uns der Möglichkeit immer näher solche »Wunder« zu wirken - und teilweise haben wir sie bereits erreicht! Müsste Jesus heute studieren, könnte man ihm ein Medizintechnik-Masterstudium empfehlen!
Wunder in Serie
Weltweit haben in den letzten 30 Jahren bisher über 300.000 gehörlose Patienten ein Cochlea-Implantat erhalten. Dabei handelt es sich um eine implantierte Mikroelektronik, die Schall von einem äußeren Mikrofon in ein elektrisches Signal umwandelt und damit den Hörnerv stimuliert. Forschung zu ähnlichen Ansätzen gibt es auch für Blinde und Sehbehinderte. Mittlerweile gibt es die ersten Testpatienten, die Retina- Implantate tragen und damit zumindest wieder rudimentär sehen können. Hier erfüllt eine Art kleiner Kamera-Chip die Funktion der Netzhaut. Und auch für Gelähmte besteht Hoffnung, denn außer Cochlea- und Retina-Implantaten wird an der Entwicklung weiterer Neuroprothesen gearbeitet, mit denen zukünftig z.B. auch Lähmungen aufgrund eines beschädigten Rückenmarks mit mikrotechnischen Lösungen überwunden werden sollen.
Interdisziplinär und vielfältig
Neben diesen überwiegend technischen Lösungen für Patienten gibt es auf der anderen Seite auch sehr biologische Ansätze. So versucht man beim sogenannten Tissue Engineering z.B. aus geeigneten Zellen des Patienten in Bioreaktoren Gewebe nachzuzüchten und dann zu transplantieren. Das können bereits jetzt Haut, Knochen und Knorpel sein. Außerdem wird aktuell an der Züchtung von Herzklappen aus Patientenzellen gearbeitet und in der Zukunft sind sogar komplette Ersatzorgane denkbar. Das würde nicht nur die aktuelle Problematik verfügbarer Spenderorgane für Betroffene reduzieren, sondern auch noch die Gefahr von Abstoßungsreaktionen beseitigen, da das Immunsystem keinen Anlass hat, das neue Gewebe zu attackieren.
Medizintechnik oder Biomechatronik oder Bioinfmechoptronik
In der Medizintechnik finden sich viele klassische Teildisziplinen, so dass dafür teilweise auch schon der Begriff Biomechatronik verwendet wird, der sich aus Biologie, Mechanik und Elektronik zusammensetzt. Passender müsste es allerdings zumindest Bioinfmechoptronik heißen, da sowohl die Optik als auch die Informationstechnik aus der Medizintechnik nicht wegzudenken sind. So beruhen viele diagnostische Verfahren, z.B. zur Tumorerkennung, auf optischen Techniken und der Blick in den Körper über Kernspin-/MRT wäre ohne eine komplexe Aufbereitung der Daten für Arzt und Patienten nicht möglich.
Inhalte des Masterstudiums Medizintechnik
Medizintechnik-Masterstudiengänge werden in Deutschland von ca. 30 Hochschulen angeboten und haben Regelstudiendauern von 3-4 Semestern. Hier spielt u.a. neben der jeweiligen Prüfungsordnung auch der vorangegangene Bachelorabschluss eine Rolle, da das
Master-Zertifikat erst nach absolvierten 300 ECTS-Punkten (European Credit Transfer System) verliehen werden darf.
In den 6 oder 7 Semestern des Bachelor-Studiengangs Medizintechnik werden notwendige Kenntnisse in allen oben genannten Teildisziplinen Mechanik (inkl. Konstruktion und CAD), Elektronik, Informatik, Optik und Humanbiologie vermittelt. In einem anschließenden Masterstudiengang ist es organisatorisch nicht möglich vertiefte Kenntnisse in all diesen Gebieten zu erreichen. In der Regel gibt es an jeder Hochschule Schwerpunkte, die mit den dortigen Forschungsaktivitäten verknüpft sind, in die die Masterstudierenden spätestens während der Abschlussarbeit eingebunden werden.
Chancen für Quereinsteiger
Dadurch, dass zum Medizintechnik-Bachelor- Studium viele technische Disziplinen gehören, gibt es prinzipiell auch für Absolventen anderer technischer Fachrichtungen die Chance zu einem Medizintechnik-Masterstudium zugelassen zu werden. Die jeweilige Hochschule hat die Möglichkeit dies zu erlauben, wird dabei aber Auflagen vorsehen. Dazu wird sinnvollerweise die Nacharbeit von medizinischen Inhalten gehören, aber auch andere Disziplinen, die für das Profil des Medizintechnik-Masterstudiums an der betreffenden Hochschule sinnvoll sind.
Tätigkeitsfelder und Arbeitgeber
Der erfolgreiche Abschluss eines Medizintechnik- Masterstudiums ist eine Qualifikation für zukünftige anspruchsvolle Tätigkeiten insbesondere in Forschung und Entwicklung. Das kann auf der einen Seite eine Promotion in einem wissenschaftlichen Institut oder an der Hochschule selber sein oder auf der anderen
Seite eine Aufgabe als Entwickler oder auch Leiter eines Entwicklungsprojektes. Natürlich arbeiten nicht alle Master-Absolventen an der Entwicklung weiterer medizintechnischer Wunder. Auch hier gibt es wieder eine große Vielfalt. Von besonderer und ständig steigender Bedeutung ist die Thematik Sicherheit und Leistungsfähigkeit von Medizinprodukten. Eine Reihe von kontinuierlich aktualisierten nationalen und internationalen Vorschriften soll sicherstellen, dass Medizinprodukte den Patienten nicht gefährden. Zur Umsetzung dieser Regularien und zur überwachung aller Vorschriften suchen Firmen und Behörden seit Jahren verstärkt qualifiziertes Personal. Die Unternehmensstruktur der durchschnittlichen Medizintechnik-Firma ist etwas anders als in vielen anderen Branchen. Auch hier gibt es internationale Großkonzerne, aber die meisten Arbeitsplätze finden sich bei sehr innovativen, kleinen und mittleren Unternehmen, die ständig an verbesserten Medizinprodukten arbeiten und kontinuierlich neue entwickeln.
Jobaussichten in einer der innovativsten Branchen
Durch ihre Vielfalt und die große Bedeutung für die Patienten, zu denen jeder selber früher oder später gehören kann und wird, ist die Tätigkeit als Master der Medizintechnik eine sehr abwechslungsreiche und erfüllende Aufgabe. Neue technische Entwicklungen aus den Bereichen Elektronik, Optik, Mikrosystemtechnik, Informatik, Werkstoffkunde und Biologie werden nicht nur zu einer ständigen Verbesserung bereits existierender Medizintechnik-Produkte führen, sondern auch völlig neuen Entwicklungen ermöglichen. Das zeigt sich auch daran, dass es jährlich 3x bis 4x mehr Patentanmeldungen in der Medizintechnik als z.B. in der Fahrzeugtechnik gibt. Gleichzeitig ist die Medizintechnik eine der wenigen Branchen mit seit Jahrzehnten steigenden Beschäftigungszahlen. Dazu passt, dass mit der zunehmenden Alterung der geburtenstarken Jahrgänge in den nächsten Jahren eine besonders große Zahl von Senioren als potentielle Medizintechnik-Nutzer auftreten. Diese werden nicht nur übliche Medizinprodukte wie künstliche Hüftgelenke, Herzschrittmacher und Hörgeräte benötigen, sondern über neue technische Möglichkeiten erfreut sein, die ihnen die selbständige Bewältigung des Alltags ermöglichen und sicherer machen. Dazu könnten z.B. Sturzsensoren gehören, die bei Bedarf automatisch Hilfe anfordern, oder in noch fernerer Zukunft Chips, die Vitalparameter verfolgen und selbständig einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erkennen.
Fazit
Ein Medizintechnik-Masterstudium ist etwas für Bachelor-Absolventen, die sich für anspruchsvolle technische Fragestellungen zum Wohle von Patienten interessieren. Und ganz besonders für diejenigen, die auf Wunder nicht nur warten wollen, sondern daran aktiv mitarbeiten möchten!
Kurzvita
Prof. Dr. Martin Heßling ist Medizintechnik- Studiendekan und seit knapp 10 Jahren an der Hochschule Ulm. Sein Lehr- und Forschungsschwerpunkt an der Schnittstelle Medizintechnik-Biotechnologie-Photonik ist das Ergebnis seiner mehrstufigen Hochschulausbildung und der beruflichen Stationen. Nach einem Physikstudium an der Universität Bonn folgte nicht nur die Promotion am Institut für Atmosphärische Chemie des Forschungszentrum Jülich sondern auch noch ein Fernstudium in Medizinischer Physik und Technik an der Universität Kaiserslautern. Dieses Fernstudium absolvierte er parallel zu seiner Postdoc-Zeit am Laser Laboratorium Göttingen e.V., in der er sich mit Anwendungen von Lasern in den Lebenswissenschaften beschäftigte. Anschließend folgte der Wechsel in die Business Unit Biophotonics der Linos Photonics GmbH & Co. KG, in der er einige Jahre an der Entwicklung optischer Systeme für die Medizin- und Biotechnologie arbeitete. Aktuell beschäftigen sich in seiner Arbeitsgruppe 5 Masterstudenten und 2 Doktoranden mit Forschungsprojekten zur UV-Desinfektion und der Entwicklung von Bioreaktoren für das Tissue Engineering.