»Bauphysik« Was ist das? Wofür braucht man das?
Ein Beitrag von Prof. Dr. Andreas Beck, Studiendekan, Hochschule für Technik Stuttgart, Fakultät Bauingenieurwesen, Bauphysik und Wirtschaft
Wenn man Jemanden auf der Straße nach Bauphysik fragt, bekommt man in der Regel folgende Antwort: »Das hat doch nur was mit Statik zu tun!« Leider ist diese Antwort völlig falsch.
Die Bauphysik stellt eine eigenständige Fachdisziplin im Bauwesen dar, mit den Kernkompetenzen im Wärme-, Schall- und Feuchtigkeitsschutz der Gebäude. Dabei ist die
Bauphysik nicht nur eine reine Anwendung der Physik auf Bauwerke und Gebäude, sondern umfasst auch Bereiche der technischen Akustik in der Industrie, die Einbindung regenerativer Energiekonzepte zum Schutz der Umwelt sowie den Schallimmissionsschutz in der städtebaulichen Planung.
Die Umsetzung der Klimaschutzziele, steigende Energiekosten, zunehmende Anforderungen an den Schallschutz, erhöhte Behaglichkeitsanforderungen sowie das zunehmende Nachhaltigkeitsbestreben im Bauwesen führen zu immer mehr Komplexität am Bau und neuen Herausforderungen an die Gebäude- und Anlagenplanung. Deshalb nimmt die Bauphysik, innerhalb des Bauwesens, einen immer höheren Stellenwert ein und die Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften insbesondere beim Wärme-, Schall- und Feuchteschutz nimmt zu. Um dieser Nachfrage gerecht zu werden, bietet die Hochschule für Technik Stuttgart seit 1978 bundesweit einzigartig einen komplett eigenständigen Studiengang Bauphysik an. Dabei werden die angehenden Bauphysikerinnen und Bauphysiker praxisnah, interdisziplinär und mit einem fundierten, naturwissenschaftlichen Know-how ausgebildet.
Welche Lehrschwerpunkte verfolgt die Fachdisziplin Bauphysik?
Die Lehrschwerpunkte zur Umsetzung der Bauphysik betreffen neben den Grundlagen in Mathematik und Physik vor allem die Kernfächer der Bauphysik mit Wärme-, Feuchte-, Schallschutz und Baustoffkunde. Aber auch zahlreiche Praktika innerhalb des Studiums z.B. Physiklabor, Bauphysiklabor, integrierte Übung ... sind innerhalb des Studiums zu absolvieren, um den zahlreichen Messaufgaben des Bauphysikers in der Praxis gerecht zu werden. Die Vertiefung findet nach dem Praxissemester, das im 5. Semester absolviert wird, im 6. und 7. Semester statt. Neben den Pflichtvertiefungsfächern z.B. Theoretische Bauphysik Schall und Wärme, Bauschadensanalyse, Raum- und Psychoakustik, Licht- und Tageslichttechnik u.v.m. können die Studierenden zwischen zahlreichen Wahlvertiefungsfächern z.B. Thermische Gebäudesimulation, Solares Heizen und Kühlen, Akustische Messtechnik, Körperschall etc. ihren Neigungen entsprechend wählen.
Welche Trends und neue Entwicklungen gibt es in der Bauphysik?
Neben den weiterhin steigenden Anforderungen beim Schall- und Wärmeschutz ist eine eindeutige Entwicklung zu einem größeren Nachhaltigkeitsbestreben im Bauwesen zu erkennen. Dabei geht es nicht nur um eine ganzheitliche Betrachtung und Bilanzierung von Gebäuden nach dem Motto »von der Wiege bis zur Bahre«, sondern auch um die optimale Abstimmung und Vernetzung des Gebäudes mit der Anlagentechnik, der Energieerzeugung, der Infrastruktur und der Mobilität. Zudem werden zukünftig Ressourcenverknappung, Baustoffrecycling und -entsorgung eine zunehmende Rolle in der Planung und Beratung spielen. Natürlich kommt der Sanierung des Bestands nach wie vor eine tragende Rolle bei der Energiewende zu, bei der die Fachkenntnisse des Bauphysikers aufgrund der oftmals schwierigen Problemfälle besonders gefragt sind.
Um diese interdisziplinären Aufgaben zu erfüllen, muss der zukünftige Berater ein breit gefächertes Grundlagenwissen besitzen. Dabei wird der Bauphysiker verstärkt mit einbezogen, da er als beratender Ingenieur eine reine Dienstleistung anbietet und daher produkt- sowie systemneutral agieren kann.
Welche Fähigkeiten und persönliche Kompetenzen sollten Studierende in diesem Studienfach insbesondere mitbringen oder erwerben?
› Gebäudebeitrag home+ der Hochschule für Technik Stuttgart beim Solar Decathlon 2010 in Madrid - 3. Platz.
Aufgrund der komplexen Aufgaben im Bauwesen und der beratenden Tätigkeit des Bauphysikers sollte man teamfähig und kontaktfreudig sein. Durch die vielen Gruppenarbeiten im Studium ergeben sich genügend Gelegenheiten diese Kompetenzen zu trainieren. Weiter ist ein ausgeprägtes Maß an analytischem Denken notwendig, um die gestellten Aufgaben zu lösen. Die ingenieurmäßige und wissenschaftliche Arbeits- und Präsentationsweise wird in den zahlreichen Praktika und bei Studienarbeiten vermittelt.
»Insgesamt werden im Studium vor allem zwei Fähigkeiten gefördert, Eigeninitiative und Selbständigkeit im Lernen und bei der Problemanalyse.«
Auch eine Abneigung gegen Mathematik und Physik sollte nicht vorhanden sein. Insgesamt werden im Studium vor allem zwei Fähigkeiten gefördert,
Eigeninitiative und Selbständigkeit im Lernen und bei der Problemanalyse.
Wie steht es um die Karrieremöglichkeiten mit dem Bachelor- oder einem Masterabschluss?
Für die bauphysikalische Beratung und Tätigkeit ist ein Bachelorabschluss völlig ausreichend. Ein Master bringt hier nicht zwingend weitere Vorteile, da in der Regel die Einsatzbereitschaft und die Effektivität in der Praxis ausschlaggebend für das weitere Vorwärtskommen sind. Sollte man nach dem Bachelorstudium Lust auf eine Vertiefung der Fachkenntnisse haben, bietet sich einer der zahlreichen vertiefenden Masterstudiengänge an. Ein Master Bauphysik wird bisher nur an Universitäten angeboten. In der Regel vertieft man sich aber ohnehin in einer Fachrichtung, z.B. Master Sence (nachhaltiges Energiemanagement) an der HFT Stuttgart. Mit dem Masterabschluss ergeben sich dann auch Perspektiven in Richtung Promotion.
Welche Perspektiven, Berufsbilder und Jobchancen ergeben sich mit der Bauphysik?
Der Großteil der Absolventen geht nach dem Studium in eines der zahlreichen Bauphysikbüros oder entsprechende Ingenieur- und Architekturbüros. Auch in vielen Bauunternehmen gibt es eine eigene bauphysikalische Abteilung. Dort kann man zum Projekt- oder Abteilungsleiter aufsteigen. Zudem besteht die Möglichkeit sich selbständig zu machen oder ein bestehendes Bauphysik-Büro zu übernehmen. Mit einigen Jahren Berufstätigkeit ist es möglich sich zum staatlich anerkannten Bausachverständigen vereidigen zu lassen. Auch Kommunen, Hochbauverwaltungen und Prüfbehörden suchen Bauphysiker/innen. Ein nicht unerheblicher Anteil der Absolventen geht in die Forschung und Entwicklung an Institute (Fraunhofer Bundesinstitute, Landesinstitute) oder in die Industrie. Dort ist man als wissenschaftlicher Mitarbeiter oder Entwicklungs- und Prüfingenieur tätig. Dabei ist es nicht nur die Baustoffindustrie, die Absolventen der Bauphysik nachfragt. Vor allem der Automobilsektor mit zahlreichen Zulieferfirmen benötigt Fachkräfte, die sich z.B. in der Akustik, im Sound Design, in der Elektromobilität und der Schwingungstechnik auskennen.
Wie wichtig ist die Weiterqualifikation?
Für die Bauphysik gilt das Gleiche wie für die meisten anderen Bereiche. Lebenslanges Lernen ist notwendig, was ja auch für Abwechslung sorgt. Das Studium vermittelt einem »nur« ein breit gefächertes Grundwissen, um die anstehenden Aufgaben angehen zu können. Je nach Aufgabe ist eine Vertiefung des Fachwissens zwingend erforderlich. Dies geschieht über Eigeninitiative oder über Fortbildungskurse. Ohnehin verändern sich die gesetzlichen Vorschriften aktuell im Zweijahrestakt und die Aufgabengebiete erweitern sich auf neue Bereiche. Allerdings verbindet man nach dem Studium die Weiterqualifikation am besten mit einer konkreten Aufgabe aus dem Arbeitsbereich. Die Notwendigkeit der praktischen Anwendung des Wissens führt in der Regel zu einer deutlich gesteigerten Effektivität beim Lernen. Mit zahlreichen Weiterqualifikationen macht man sich auch besonders wertvoll, wenn es um einen Arbeitsplatzwechsel geht.
Wie wichtig ist die praktische Erfahrung und auf welche Weise erreicht man diese bestenfalls?
Wie nach einem Gesellen- oder Meisterabschluss benötigt man auch nach einem Studium in der Regel ein bis zwei Jahre Berufserfahrung, um alle Facetten des Berufsalltags kennenzulernen. Erst nach dieser Zeit ist man in der Lage selbstständig größere Projekte durchzuführen und zu leiten. Ohne diese praktische Erfahrung sollte man sich nach dem Studium nicht gleich selbstständig machen. Eine bautechnische Berufserfahrung bringt hier natürlich Vorteile, ist aber nicht zwingend erforderlich.
»Nach dem Studium alle Bereiche der Bauphysik nochmals praktisch kennenlernen und erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Spezialisierung vornehmen.«
Sehr hilfreich ist die Mitarbeit in einem Büro während des Studiums. Dies führt in der Regel zu einem besseren Einstieg in das spätere Berufsleben. Nach dem Studium sollte man in einer ersten Anstellung darauf hinarbeiten alle Bereiche der Bauphysik nochmals praktisch kennenzulernen und erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Spezialisierung vorzunehmen. Ein Wechsel nach einigen Jahren bringt in der Regel einen weiteren Erkenntnisgewinn, da man so unterschiedliche Büroabläufe und Büroarbeitsweisen kennenlernt.
Welche Wege gibt es in den Berufseinstieg? Was ist wichtig für die Karriereplanung und den Berufseinstieg?
Ein Großteil unserer Absolventen beginnt nicht selten dort, wo schon ein intensiver Kontakt im Studium hergestellt wurde. Diese Kontaktmöglichkeiten ergeben sich aus Patenschaften, Stipendien, im Praxissemester oder während der externen Bachelorarbeit. Sehr sinnvoll ist die Mitarbeit während des Studiums in Bauphysikbüros, Instituten oder der Industrie. Die praktische Anwendung des Gelernten erhöht deutlich den Lernerfolg während des Studiums. Zudem bietet es eine weitere Möglichkeit einen späteren Arbeitgeber kennenzulernen und vergleichen zu können. Darüber hinaus lässt sich hierdurch das Studium finanzieren. Nicht unwesentlich ist auch die deutliche Aufwertung des Lebenslaufes, wenn man während des Studiums zusätzliche Initiative gezeigt hat. Dies gilt natürlich auch für soziales Engagement in einem Verein oder anderen Einrichtungen. Auch sollte schon vor Beginn der Bachelorarbeit mit der Suche nach einem späteren Arbeitgeber begonnen werden, um sich die Rosinen herauszupicken.
Kurzvita
Dr. Andreas Beck studierte Physik an der Universität Würzburg. Nach seinem Diplom promovierte er, ebenfalls in Würzburg, im Bereich schaltbarer Materialien zur Steuerung des Solarenergieeintrags in Gebäuden. Anschließend war er 10 Jahre am Bayerischen Zentrum für Angewandte Energieforschung e.V. in Würzburg - zuletzt als geschäftsführender Abteilungsleiter - tätig. Seit 2003 ist Dr. Andreas Beck an der Hochschule für Technik Stuttgart im Studiengang Bauphysik aktiv. 2006 hat er die Leitung des Studiengangs übernommen und seit 2010 ist er zusätzlich als Prodekan der Fakultät Bauingenieurwesen, Bauphysik und Wirtschaft tätig. Nebenbei widmet er sich der angewandten Forschung im Energiebereich und leitet eine Arbeitsgruppe an der Hochschule, die mit vielfältigen Firmen aus der Industrie kooperiert.