Werkstoffwissenschaft - der unbekannte Studiengang
Ein Beitrag von Prof. Dr. Peter Schaaf, Dekan der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik an der TU Ilmenau
Obwohl in Deutschland heute mehr als 40 Hochschulen entsprechende Studiengänge anbieten, sind die Werkstoff- und Materialwissenschaften für viele Schüler(innen), die sich über Studienrichtungen informieren, ein noch unbekanntes Gebiet. Das liegt sicher auch daran, dass wir uns im täglichen Leben eher selten Gedanken über die Werkstoffe und Materialien machen, die uns umgeben und die wir intensiv nutzen.
› Praxis im Studium Werkstoffwissenschaft
Ganz zu Unrecht, wie ich finde, denn Werkstoffe haben unsere menschliche Kultur von den Anfängen bis heute in die Gegenwart entscheidend mitgeprägt. Die Werkstoffwissenschaft gehört zu den wesentlichsten Impulsgebern für neue, weitreichende Innovationen und ist damit strategisch bedeutend für unsere moderne Industriegesellschaft.
Most wanted: Neue Werkstoffe
Egal welche Branche wir betrachten, ob Umwelttechnik, Energie, Medizin, Kommunikation oder Automobilindustrie: der »richtige« Werkstoff entscheidet meist über den Erfolg eines neuen Produktes mit neuen Eigenschaften. Werkstoffe haben eine Schlüsselposition in der Wirtschaft, denn sie stehen am Anfang eines jeden Produktionsprozesses - ganz gleich ob es sich um Bauteile, Maschinen oder Anlagen handelt. Daher möchte ich die Werkstoffwissenschaft stärker in den Blickpunkt rücken und gleichzeitig auch mehr Studierende für diese spannende Wissenschaft begeistern.
Bin ich hier richtig?
Begeisterung ist vielleicht gleich der richtige Einstieg, denn Begeisterung sollten Interessierte mitbringen - vor allem für ein praxisorientiertes Anwenden und Entwickeln von Werkstoffen. Wer später im Arbeitsleben innovative Materialien und Produkte entwickeln möchte, die unser Leben verbessern und unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflussen, wer sich Neues ausdenken oder Bestehendes verbessern möchte, ist in der Werkstofftechnik bzw. -wissenschaft genau richtig.
Was wird gelehrt?
Smartphone - Gebäudefarben - Hüftimplantate - Musikinstrumente, und und und ... vielen modernen Produkten sehen wir nicht an, was alles an hochmodernen Werkstoffen in ihnen steckt. Werkstoffingenieure erforschen, entwickeln, überprüfen und verbessern die Eigenschaften von Werkstoffen. Sie kennen deren exakte Eigenschaften, Fertigungswege, Weiterverarbeitung und Einsatzmöglichkeiten. Dazu sind vielseitige und fächerübergreifende Kenntnisse nötig. Inhaltlich verbindet die Werkstoffwissenschaft daher die verschiedenen Naturwissenschaften mit den Ingenieurwissenschaften.
› Nanostrukturen
Unser Bachelorstudiengang Werkstoffwissenschaft dauert sechs Semester und vermittelt grundlegende, breit gefächerte Kenntnisse über die Wechselbeziehungen zwischen dem strukturellen Aufbau und den Eigenschaften eines Werkstoffs unter den Gesichtspunkten: Herstellung, Verarbeitung, Bearbeitung, Anwendung, Wiederverwertung und Entsorgung.
Neben den essentiellen ingenieur- und naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern wie Mathematik, Physik, Chemie, Fertigungsverfahren oder Elektrische Messtechnik bestimmen insbesondere werkstoffwissenschaftliche Grundlagen das Bachelor-Studium:
› Grundlagen der Werkstoffwissenschaft
› Kristallografie
› Werkstoffprüfung und -charakterisierung
› Werkstoff-, Oberflächen- und Beschichtungstechnologie
Das Masterstudium Werkstoffwissenschaft ist auf vier weitere Semester angelegt. Hier vertiefen Studierende ihr Wissen zu Struktur, Eigenschaften, Herstellung und Entwicklung von Werkstoffen aller Art, also Metalle, Gläser, Halbleiter, Keramiken, Polymere, Verbundwerkstoffe. Das Masterstudium schließt idealerweise direkt an ein Bachelorstudium an, kann aber auch zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen werden.
Wie praktisch ist das Studium?
Einer unser derzeitigen Studierenden beschrieb es einmal folgendermaßen: »Werkstoffwissenschaft ist eine Spielwiese für Forschung und Entwicklung! Mir gefällt, dass man Einblicke in viele Bereiche bekommt und in den Praktika viele Freiheiten hat, um Neues auszuprobieren ...«
› Praxis im Studium Werkstoffwissenschaft
Die Anwendungsseite wird bei uns groß geschrieben. Im Bachelorstudium sind Grundlagenpraktika, werkstoffwissenschaftlich ausgerichtete Praktika und natürlich das mindestens 12-wöchige Praktikum in einem Industrieunternehmen fest verankert. Unsere Studierenden werden schon frühzeitig in die Forschungsprojekte der Universität einbezogen und bearbeiten dabei eigenständig Projektaufgaben. Der direkte Praxisbezug wird auch durch viele angebotene Exkursionen und Experimente sowie unsere engen Kooperationen mit Unternehmen aus der Umgebung und aus dem Ausland gewährleistet. Im Masterstudium ist es ähnlich, außerdem beinhaltet dieses als Besonderheit noch ein komplexes »Projekt mit Hauptseminar«.
Auch Internationalität wird bei uns großgeschrieben und gelebt. Wir empfehlen unseren Studierenden, internationale Erfahrungen zu sammeln und unterstützen sie dabei, Auslandsaufenthalte zu realisieren. Das Institut für Werkstofftechnik, das hier an der Universität den Studiengang trägt, hält enge Kontakte zu vielen ausländischen Universitäten in der ganzen Welt. Im Masterstudium besteht zudem die Möglichkeit, ein Jahr an der Pontificia Universidad Católica del Peru (PUCP) in Lima/ Peru zu studieren und einen Doppelabschluss Werkstoffwissenschaft zu erhalten. Aber auch Auslandsaufenthalte an anderen europäischen oder weltweiten Universitäten sind über die vielen internationalen Kooperationen jederzeit gut möglich.
Wie sind die Aussichten?
Das werkstofforientierte Bewusstsein in der Gesellschaft wächst und führt vermehrt zu werkstoffspezifischen Fragestellungen. Dadurch steigt auch die Nachfrage nach Werkstoffwissenschaftlern stetig und man findet sie in allen Wirtschaftsbranchen, in der Forschung, in Materialprüfämtern, in Ministerien und im Patentwesen. Deshalb, und natürlich auf Grund ihres sehr guten Rufs erhalten unsere Absolventinnen und Absolventen meist schon vor dem eigentlichen Abschluss ihres Studiums tolle Jobangebote - und zwar weltweit!
Die
spannenden Perspektiven reichen dabei von der Entwicklung neuer Materialien über die Verbesserung der Herstellungsprozesse und die Werkstoffprüfung bis hin zum Recycling.
»Mein Interesse für Chemie und Technik haben mich zur Werkstoffwissenschaft gebracht, die gute Betreuung und Ausstattung dann nach Ilmenau. Im Master habe ich das Doppelabschluss-Angebot genutzt - eine einmalige Chance, um Land und Kultur Perus kennenzulernen. Mein Start ins Berufsleben lief nahtlos, denn Werkstoffwissenschaftler werden händeringend gesucht. Heute entwickle ich neue Verfahren in der Galvanotechnik und schätze dabei vor allem die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis.«
Christoph Baumer
Absolvent der TU Ilmenau
Spektakuläre Werkstoffentwicklungen
Werkstoffe prägten und prägen maßgeblich die Geschichte der Menschheit. In der Vergangenheit gaben bestimmte Werkstoffe großen Zeitabschnitten in der menschlichen Entwicklung ihren Namen: Steinzeit, Kupferzeit, Bronzezeit und Eisenzeit. Mit welchem (Werkstoff)Namen unser jetziges Zeitalter in die geschichtliche Betrachtung eingehen wird, ist bislang offen, doch die überragende Relevanz von Materialien für unsere Gesellschaft bleibt unverändert. Das Erforschen und Entwickeln neuer Materialien hat heute andere Dimensionen und Zielstellungen. »Werkstoffe nach Maß« - intelligent, individuell und nachhaltig - ist dabei die Devise. Dabei werden neue Werkstoffe heute meist in drei zentrale Typen eingeteilt: »Verbundwerkstoffe«, »Multifunktionale Werkstoffe « und »Materialien auf Mikro- und Nanoebene «.
Verbundwerkstoffe bestehen aus mindestens zwei verschiedenen Materialien unterschiedlicher Stoffklassen. Ihre Vereinigung bündelt ihre Vorteile und ermöglicht ganz neue Anwendungen und Produkte. Ein recht bekanntes Beispiel für Multifunktionale Werkstoffe wiederum sind Formgedächtniswerkstoffe, spezielle Metalle, die sich trotz nachfolgender starker Verformung an eine frühere Formgebung »erinnern«. Sie werden beispielsweise als medizinische Implantate in Form von Stents eingesetzt. Das sind winzige Stützsysteme mit dem Aussehen eines Metallgitterröhrchens, die z.B. ein Blutgefäß offen halten können. Sie werden in komprimierter Form mittels eines Katheters in das Blutgefäß eingeführt und entfalten erst im Kontakt mit dem körperwarmen Blut die gewünschte Röhrenform. Damit retten sie vor allem vielen Herzpatienten das Leben. Materialien auf Mikro- und Nanoebene sind zwar kaum sichtbar, aber schon heute allgegenwärtig - in Kommunikationstechnologie, Autos, medizinischen Geräten und Gebäuden.
Bio - auch ein Trend in der Werkstoffwissenschaft
Wie sehr die Werkstoffwissenschaft die verschiedenen Natur- und Ingenieurwissenschaften miteinander verbindet, zeigt sich auch im Forschungsfeld der modernen Bionik. Ihr liegt die Überzeugung zu Grunde, dass die Natur selbst die jeweils passende Lösung einer Fragestellung parat hält. Sie beschäftigt sich daher mit der Erforschung natürlicher Materialien und Prozesse als Vorbild für die Optimierung ingenieurstechnischer Anwendungen. Beispiele hierfür sind der abperlende Lotuseffekt, der bereits auf Gebäudefarben übertragen wurde, sowie Spinnseide, die fester als Stahl und gleichzeitig extrem elastisch und wasserfest ist. Ob vollständig kompostierbare Verpackungen, keimabweisende bzw. selbstreinigende Oberflächen oder intelligente Textilien: die Liste zukünftiger Werkstoffentwicklungen ist und bleibt anspruchsvoll und herausfordernd. Wir freuen uns, wenn Sie sich mit uns diesen Chancen und Aufgaben stellen!
› Bildquellen: TU Ilmenau
Kurzvita
Univ.-Prof. Dr. Peter Schaaf ist Werkstoffwissenschaftler, Dekan der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik und Mitglied des Instituts für Werkstofftechnik sowie des Instituts für Mikro- und Nanotechnologie an der TU Ilmenau. Er leitet den Studiengang Werkstoffwissenschaft und forscht an nanostrukturierten Werkstoffen, insbesondere für die Energietechnik und die Sensorik.
Kontakt
Telefon: +49 3677 69-3611
Email: peter.schaaf@tu-ilmenau.de
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